Heute mal was ganz anderes. Und zwar eine kleine Musikstunde mit geschichts- und erinnerungsdidaktischem Anstrich. (@Geschichtslehrer*innen: bedient Euch gern!) Denn ich bin heute über ein paar spannende Geschichten und Verknüpfungen zu einem Lied gestolpert, das mich schon lange begleitet. Bis jetzt war ich dazu ahnungslos, doch mit diesem Hintergrund entsteht geradezu ein Lehrstück für den Auftrag, immer und immer wieder an die Unmenschlichkeit, Verblendung und Brutalität des Nationalsozialismus zu erinnern, und daran, wen und was die Deutschen alles vernichtet haben.
Doch eins nach dem anderen. Zu den kleinen Recherchen bin ich gekommen, weil ich demnächst wohl im Auftrag der Thüringer Landeszentrale für politische Bildung eine Konzertveranstaltung moderieren werde. Dazu später sicher mehr, aber es soll dort um die Höhenflüge der Kultur in der Weimarer Republik gehen und ihren jähen Absturz ab 1933. Und auch um den „Kleinen Mann“ in dieser Zeit. Also habe ich mich mal auf die Spurensuche zu meiner Lieblingsfassung von „Oh, Donna Clara“ gemacht, die noch immer in der ein oder anderen Playlist von mir ist, weil mir das Lied und sein schöner Text bei diesem Thema sofort in den Sinn kamen.
Um welche Fassung handelt es sich? Gleich. Denn man soll ja einen didaktischen Bogen bauen. Also starten wir das Ganze mit folgender Abscheulichkeit:
Menschen mit einem besseren Musikgeschmack, einer halbwegs passablen musikalischen Allgemeinbildung und meines groben Jahrgangs werden jetzt wissen, worum es geht: The Bates, 1995, Pleasure + Pain, Titel 17. (Zimbl, rest in peace!) Viele waren beim Hören froh, wenn der Song – an dem übrigens auch Bela B. und Farin Urlaub mitgewirkt haben – vorbei war, fiel er doch etwas aus dem sonstige Stil der Band heraus. Ich fand ihn damals schon ziemlich cool, wie auch die punkige Version von „Heo, spann den Wagen an“ von 1994. Hier also die einzig akzeptable Version von „Oh, Donna Clara“ nach 1945:
Während die Schunkel-Schlager-Version des BR gänzlich auf die Strophen des Liedes verzichtet und damit dem ‚Anspruch‘ heutiger Unterhaltungsmusik unterstreicht, spielen die Bates immerhin zwei der vermutlich vier Strophen ein, so wie fast alle neueren Fassungen des Liedes. Neu war für mich nun: die Pointe wird erst zusammen mit der zweiten und dritten Strophe so richtig klar: der kleinbürgerliche Genießer aus Posen, wahrscheinlich auf Geschäftsreise im brodelnden Babylon Berlin, bringt seine Sehnsüchte und Fantasien zu Papier und widmet die Zeilen seiner Angebeteten – die daraus einen Schlager-Hit macht – und wahrscheinlich die dämmrige Diele hinter sich lassen kann. Bei Youtube finden sich einige historische Einspielungen, die die zweite Strophe nutzen, stattdessen aber auf die dritte und vierte verzichten.1 Eine Version, in der wirklich alle vier Strophen gesungen wurden, habe ich nicht finden können. Der vollständige Text lautet wie folgt:
In einer dämmrigen Diele
tanzt die Spanierin jede Nacht
In diesem edlen Profile
ist die Saharet neu erwachtUnd ein Genießer aus Posen
er schickt ihr täglich ’nen Strauß roter Rosen
denn er hat wilde Gefühle
und er flüstert heiß, wenn sie lachtOh, Donna Clara – ich hab dich tanzen gesehn
und deine Schönheit hat mich toll gemacht
Ich hab im Traum dich dann im Ganzen gesehn
das hat das Maß der Liebe vollgemachtBei jedem Schritte und Tritte
biegt sich dein Körper genau in der Mitte
und herrlich gefährlich sind deine Füße, du Süße, zu sehn
Oh, Donna Clara – ich hab dich tanzen gesehn
oh, Donna Clara – du bist wunderschönEr zählt schon fünfzig Lenze
doch er ist von ihr ganz behext
Und bis zur äußersten Grenze
Seine Leidenschaft heute wächstEr ist ein Kaufmann, ein schlichter
jedoch die Liebe, sie macht ihn zum Dichter
und zur Musik ihrer Tänze
schreibt er glückberauscht einen TextOh, Donna Clara – ich hab dich tanzen gesehn …
Du kokettierst mir den Leuten,
wirfst Dein schwarzes Aug‘ hin und her.
Jeder möcht‘ gern Dich begleiten,
in Dein Heimatland, fern am Meer.
Aber da lachst Du nur zynisch
und empfiehlst Dich auf argentinisch.
Von Buenos Aires bis Beuthen
machst Du so das Lied populär:
Oh, Donna Clara – ich hab dich tanzen gesehn …
Doch der Genießer aus Posen
ist ins Heimatland bald entflohn
denn viel zu viel kosten Rosen
die man täglich schenkt ohne LohnDoch in der trauten Familie
nach Gansbraten mit viel Petersilie
fällt ihm das Herz in die Hosen
denn auf einmal singt’s GrammophonOh, Donna Clara – ich hab dich tanzen gesehn2
Soweit, so ulkig. Und wir sind mitten im Revival der 1920er und der Faszination, die ihre Kultur auch heute noch zu Recht auf die Menschen ausübt, selbst die eher leichte Unterhaltung. Und wer bringt diese Zeit heute den Menschen näher als Max Raabe?:

„Oh, Donna Clara“ ist also nach wie vor ein echter Gassenhauer. Die Musik zu dem Lied stammt aus dem Jahr 1928 und wurde von dem polnisch-jüdischen Schlagerkomponisten Jerzy Petersburski als „Tango Milonga“ komponiert. Nach dem deutschen Einmarsch in Polen kam er in die UdSSR und diente dann beim Militärradio der „Anders-Armee“ im Nahen Osten. Ein polnischer Text stammt von Andrzej Włast, ebenfalls mit jüdischen Wurzeln und 1942/43 im Warschauer Ghetto verstorben. Zum internationalen Hit wurde das Stück aber erst, als der Wiener Bohême Verlag 1930 die Rechte erwarb und es mit einem deutschen Text aus der Feder Fritz Löhner-Bedas versah. „Beda“ war das Pseudonym des 1883 als Bedřich Lewy geborenen Fritz Löhner. Schon seit 1910 war er als freier Schriftsteller aktiv, unter anderem als Librettist des berühmten Operettenkomponisten Franz Lehár, wurde nach dem Ersten Weltkrieg auch einer der erfolgreichsten Schlagertexter und 1934 Vizepräsident der österreichischen Verwertungsgesellschaft für Autoren, Komponisten und Musikverleger.

Apropos Bohême: Fritz Löhner war damit ein Teil der Wiener jüdischen Bohême, die der österreichisch-jüdische Autor Friedrich Torberg in seiner „Tante Jolesch oder: Der Untergang des Abendlandes in Anekdoten“ und den „Erben der Tante Jolesch“ verewigt hat. Jenes Netzwerk aus Schriftstellern, Journalisten, Musikern, Künstlern und vielen anderen – eine Wiener Melange aus „Käuze[n] und Originale[n]“. Melancholisch blickt Torberg 1975 auf sie zurück:
„Sie alle hat es gegeben und es gibt sie alle nicht mehr, weder sie noch die Gefilde und Kulissen, in denen sie sich bewegten, nicht die Kaffeehäuser und Redaktionen, nicht die Familientische und Sommerfrischen, nichts. Es gab sie bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkrieges, und in ein paar letzten Zuckungen – ähnlich wie ein Huhn, dem man den Hals umgedreht hat, ein paarmal mit den Flügeln schlägt – gab es sie bis in die Emigration hinein. Seither gibt es sie nicht mehr.“3
Ob und in welchen Kaffeehäusern und Kreisen Wiens Fritz Löhner verkehrte, weiß ich nicht. Aber dass er Teil dieses Geflechts aus jüdischen Intellektuellen war, die einen wesentlichen Anteil an der kulturellen Blüte der 1920er hatten, steht außer Frage. Und irgendwo in der Tante Jolesch findet sich mit Sicherheit auch sein Name (Tipps sind willkommen). Es handelt sich dabei auch nicht nur um einen kleinen Kreis von Intellektuellen, sondern um ein ganzes soziales Milieu. Fast 200.000 Menschen umfasste die jüdische Gemeinde Wiens um 1930, sowie eine Vielzahl jüdischer Vereine. Einer von ihnen: der jüdische Sportverein SC Hakoah Wien, dessen Gründungspräsident Fritz Löhner war, dessen Fußballmannschaft 1925 österreichsicher Meister wurde und dessen Schwimmsektion und Wasserballmannschaft Friedrich Torberg angehörte. Dieses reiche gesellschaftliche und intellektuelle jüdische Leben beschränkte sich nicht auf Wien, sondern war weiterhin eng mit den kulturellen Zentren der ehemaligen k.u.k.-Monarchie in Prag und Budapest und auch mit Deutschland verbunden.

1938 war damit Schluss. Anders als Friedrich Torberg und viele andere schaffte es Fritz Löhner nicht in die Emigration. Direkt nach dem „Anschluss“ Österreichs an Deutschland wurde er 1938 verhaftet und über Dachau nach Buchenwald deportiert. Dort arbeitete er „in der Strumpfstopferei und ab September 1939 im Gärtnerei-Kommando. Vergeblich hofft(e) er, Franz Lehár werde sich für seine Freilassung einsetzen. Im Lager beteiligt(e) er sich an Kleinkunst-Aufführungen für Mithäftlinge.“4 1938 befahl der Schutzhaftlagerführer Arthur Rödl, nach dem Vorbild in anderen Konzentrationslagern ein ‚Lagerlied‘ zu schaffen. Vermutlich ohne dass der SS die eigentlichen Urheber bekannt waren, entstand so das Buchenwaldlied aus der Feder Fritz Löhner-Bedas. Die Musik dazu schuf Hermann Leopoldi, der kurz nach Fritz Löhner ebenfalls aus Wien über Dachau nach Buchenwald deportiert worden war. Hier der Text des Liedes, aus derselben Hand wie Donna Clara:
Wenn der Tag erwacht, eh‘ die Sonne lacht,
die Kolonnen ziehn zu des Tages Mühn
hinein in den grauenden Morgen.
Und der Wald ist schwarz und der Himmel rot,
und wir tragen im Brotsack ein Stückchen Brot
und im Herzen, im Herzen die Sorgen.O Buchenwald, ich kann dich nicht vergessen,
weil du mein Schicksal bist,
Wer dich verließ, der kann es erst ermessen,
wie wundervoll die Freiheit ist!
O Buchenwald, wir jammern nicht und klagen,
und was auch unser Schicksal sei,
wir wollen trotzdem ja zum Leben sagen,
denn einmal kommt der Tag: dann sind wir frei!Und das Blut ist heiß und das Mädel fern,
und der Wind singt leis, und ich hab‘ sie so gern,
wenn treu sie, ja, treu sie nur bliebe!
Und die Steine sind hart, aber fest unser Tritt,
und wir tragen die Picken und Spaten mit
und im Herzen, im Herzen die Liebe.O Buchenwald….
Und die Nacht ist kurz, und der Tag ist so lang,
doch ein Lied erklingt, das die Heimat sang:
wir lassen den Mut uns nicht rauben!
Halte Schritt, Kamerad, und verlier nicht den Mut,
denn wir tragen den Willen zum Leben im Blut
und im Herzen, im Herzen den Glauben.O Buchenwald….5
Was zur Verhöhnung der Häftlinge gedacht war und womit sie durch ewig wiederholten Massengesang beim Appell traktiert wurden, wurde für sie selbst und Dank des Textes Fritz Löhners zu einer Quelle der Stärkung und Hoffnung. Bis 1942, als die Zahl deutscher Häftlinge signifikant sank, soll es gesungen worden sein. Auch Fritz Löhner war Teil dieser Veränderungen der Häftlingsstruktur, denn er wurde 1942 nach Auschwitz deportiert. Dort wurde er in den Buna-Werken der IG Farben zur Zwangsarbeit eingesetzt. In Raul Hilbergs6 „Die Vernichtung der europäischen Juden“ findet sich schließlich eine Schilderung des Todes Fritz Löhners, basierend auf einer eidesstattlichen Aussage eines Mithäftlings. Im Zuge einer Inspektion durch fünf Direktoren der IG Farben kam es zu folgendem Vorfall:
„Einer der Direktoren wies auf Dr. Löhner-Beda und sagte zu seinem SS-Begleiter: ‚Diese Judensau könnte auch rascher arbeiten.‘ Darauf bemerkte ein anderer I.G.-Direktor: ‚Wenn die nicht mehr arbeiten können, sollen sie in der Gaskammer verrecken.‘ Nachdem die Inspektion vorbei war, wurde Dr. Löhner-Beda aus dem Arbeitskommando geholt, geschlagen und mit Füßen getreten, daß er als Sterbender zu seinem Lagerfreund zurückkam und sein Leben in der I.G.-Fabrik Auschwitz beendete.“7
Die Familie Fritz Löhners – seine Frau Helene und seine beiden Töchter Liselotte und Eva – harrten bis 1942 in Wien aus und wurden dann in das Vernichtungslager Maly Trostinez bei Minsk deportiert und dort ermordet – drei Monate vor ihrem Ehemann und Vater. Liselotte war 15, Eva 13 Jahre alt.

Damit schließt sich der didaktische Bogen. Und mir stellt sich die Frage, wie viele der eingangs zu Donna Clara Schunkelnden wissen, auf wessen Gräbern sie tanzen, sofern es diese Gräber überhaupt gibt. Und auf wessen Schultern ihre Unterhaltung ruht. Bis vor wenigen Tagen wusste ich es ja auch nicht, und ich schätze (!) einmal, dass es Zimbl, die Bates und die Ärzte auch nicht wussten, als sie einen 1920er-Schlager 70 Jahre später punkig vertonten. Zuzutrauen wäre es ihnen aber fast, mit ihrem langen Einsatz gegen Rechts. Deswegen ist das Lied bei ihnen auch besser aufgehoben als in einer bayerischen Schunkelbude, und ich bleibe definitiv bei dieser Version in meiner Playlist…
- Siehe hier und hier, beide gesungen von Jacques Rotter. ↩︎
- Siehe hier und hier. Es gibt auch kleinere Abweichungen hier und da in den gesungenen und online dokumentierten Texten. Die tatsächlich von „Beda“ gedichteten Zeilen müssten in einem Archiv geprüft werden… ↩︎
- Friedrich Torberg: „Die Tante Jolesch oder Der Untergang des Abendlandes in Anekdoten“ und „Die Erben der Tante Jolesch“, Doppelband. München 2008, S. 13f. ↩︎
- Siehe das Profil Fritz Löhners auf der Website der Gedenkstätte Buchenwald, hier. ↩︎
- Siehe hier, wo sich auch eine weitere Einspielung des Liedes durch den Chor des Weimarer Musikgymnasiums Schloss Belvedere unter der Leitung von Annette Schicha von 2004. ↩︎
- Der Historiker Raul Hilberg wurde selbst 1926 in Wien geboren und emigrierte 1939 mit seiner Familie im Altrer von 13 Jahren über mehrere Stationen in die USA. ↩︎
- Raul Hilberg: Die Vernichtung der europäischen Juden. Frankfurt am Main 1990, S. 994 ↩︎
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